Textatelier
BLOG vom: 21.04.2007

Nach luftiger Schmetterlingsart Geschichten erzählen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Während ich im Garten das rote Manchesterhemd an die Wäscheleine hänge, schwirren meine Gefühle und Gedanken schon in der Banlieu von Paris herum, denn dort wurde es seinerzeit gekauft. Sofort befinde ich mich in Ferienstimmung, erinnere mich an viele Einzelheiten unseres 10 Jahre zurückliegenden Besuches in Saint Denis.
 
Ich fühle mich immer wieder beschenkt, wenn Gegenstände oder Gerüche urplötzlich Erinnerungen ins Bewusstsein bringen. Solche Augenblicke sind echte Rückführungen, und diese geniesse ich. Meist sind es schöne Erlebnisse, die ich nachempfinden darf. Obwohl ich weiterhin Wäsche aufhängte, war ich abwesend. Der Körper da, Empfindungen und Gedanken auf Reisen. Über 600 Kilometer weit weg.
 
Zurückgekommen sind sie, als alle Wäschestücke aufgehängt und der Korb leer geworden war. Da entdeckte ich auf dem weissen Leintuch einen Zitronenfalter. Er musste soeben hier gelandet sein. Seine Flügel bewegten sich noch. Ich schaute ihm zu und dachte: Wir zwei sind Wesensverwandte. Auch ich flattere ja, wie vorhin, in der Weltgeschichte herum. Auch ich lasse mich von Reizen verlocken. Verweilen ist nicht immer unsere Sache. Immer drängt es uns weiter. Selbstverständlich kommen auch wir wieder an unsere Ausgangsorte zurück. Aber wir verfolgen nicht nur ein lineares Ziel. Wir besuchen viele Orte, aus unterschiedlichen Gründen zwar, aber mit derselben Unruhe. Und wir lassen uns ablenken.
 
Der Falter flog dann weg. Ich habe ihn rasch aus den Augen verloren. Aber das Leintuch war noch da und flatterte im Wind. Und schon malte ich mir aus, wie es sich anfühlen wird, wenn ich mich am Abend darin einhülle. Es ist eines aus jener alten Qualität, die sich rauh anfühlt. Es raschelt, wenn ich mich zudecke. Würde ich es bügeln, verlöre es diesen Effekt. So unbehandelt, spüre ich dann in der Nacht noch die Sonne und den Wind, die es trockneten. Wie in meiner Kindheit, als die Betten noch jeden Frühling gesonnt wurden.
 
Man trug sie ins Freie. Decken wurden geschüttelt und der Sonne ausgesetzt, Gestelle gereinigt und poliert. Die Matratzen mit dem Teppichklopfer geklopft. Zimmer und Fenster wurden ebenfalls einer Generalreinigung unterzogen. Das Resultat: Die absolute Frische. Das vorher beschriebene Leintuch ist nur ein kleiner Aspekt davon.
 
Dora, eine Verwandte, hielt bis zu ihrem Tod vor 2 Jahren an dieser Ordnung fest. Auch über ihren 80. Geburtstag hinaus musste der traditionelle Frühjahrsputz in immer gleicher Manier vollzogen werden. Solange ich sie gekannt habe, machte sie alles so, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Wollten wir ihr diese schwere Arbeit ausreden oder ihr helfen, verwies sie uns auf die Pflicht. Die Mutter hätte es immer so verlangt. Im gleichen Sinne blieb sie ihrer wunderschönen Sprache treu. Da gab es keine Anpassungen an unsere Zeit, keine Modeworte, keine Einsprengsel aus anderen Sprachen. Der von ihr gesprochene Zürcher-Oberland-Dialekt blieb zeitlebens unverfälscht, reich an Bildern, eine Geschichte für sich. Manchmal fühlte ich Heimweh, wenn ich sie sprechen hörte. Sie machte mir bewusst, was ich zurückgelassen habe, als ich mit den Eltern in die Stadt umzog.
 
Dora gehörte zu den Bedächtigen und Getreuen. Sie wurde oft als schwerfällig empfunden, hat uns aber immer wieder gezeigt, wie wichtig auch ihre Gattung ist. Wer anders würde uns denn noch von den Vorfahren, ihren Erfahrungen und ihrem Weltbild erzählen?
 
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